Vom Recycling alter Familienfotografien
Erschienen in der Zeit, 1991

Sie, lieber Leser oder liebe Leserin, sind gestorben. Es trifft sich, dass Ihre Seele einige Zeit später über einem Flohmarkt schwebt und in einer alten Grabbelkiste, zwischen Keksdosen und rostigen Schlittschuhen, Ihre Fotoalben entdeckt, die Fotogeschichte Ihres einstigen Lebens.

Fotografie

Waarenhaus Hermann Tietz, Hamburg, o. D.

Die Einbände sind schon verkratzt, die Seiten fleckig. Das Foto von Ihnen mit Charlie (der immer den Rasenmäher anbellte und später von einem Auto erwischt wurde) ist halb herausgerissen.

Was fühlen Sie: a) Am liebsten würden Sie sich im Grab herumdrehen. b) Es ist Ihnen egal, schließlich sind Sie tot.

Ein junger Mann, Jeans und Seidenblouson, greift sich das blaue Lederalbum mit den Dokumenten Ihrer frühen Tage. Sie als Blassling im Konfirmationsanzug (zwangsvererbt vom Cousin Karl) findet er supergeil und das Bild mit dem Rasierschnitt und den abstehenden Ohren ultimativ komisch. Auf drei Mark handelt er das Album herunter (weil es schon so schäbig aussieht).

„Darf ich Sie fragen, was Sie mit den Bildern machen?“ fragt Ihre Seele, rein interessehalber.

„Die im Postkartenformat gehen wieder in den Verkehr, die schick' ich den Kids und so, und die ultraheißen pinnt meine Freundin an die Klotür.“ Sagt er und zieht mit dem Album ab, und Ihre Seele taumelt ...




Das große Gruppenfoto (Sie ganz hinten) aus dem verhassten Landschulheim mit den „Hier-ist-alles-prima-Grüßen" an die Eltern – was wird er damit machen? Vermutlich mit Filzstift drüberschreiben: „Alles oberokay, Gruß aus Heidelberg, Bunny.“

Wem wird er das „tierisch tuntige“ Porträt Ihrer Lieblingstante Else schicken (die Ihnen als Kind immer einen kleinen Extrakuchen backte, wenn Sie krank waren), und wem Ihre Eltern 1968 am Lago Maggiore? Sie als Seele können da gar nichts mehr tun.

Tote anderer, primitiverer Kulturen hätten ihre persönliche Habe mit ins Grab nehmen dürfen: Sie aber hätten sich eben rechtzeitig um die Entsorgung der Dokumente Ihrer persönlichen Geschichte kümmern müssen, wenn Sie nicht gnadenlos recycelt werden wollen – oder ist Ihnen das tatsächlich egal, nach Ihrem Tod?

Text © I. Techentin