Altes E-Werk, 15. 1. 2011

„Wir brauchen den Wutbürger!"


Was ist der Unterschied zwischen einem Comedian und einem Kabarettisten? Der Comedian macht’s wegen dem Geld, der Kabarettist wegen des Geldes. Christoph Sieber beherrscht die Grammatik und ist beides in Personalunion – müsste also eigentlich ein Doppelverdiener sein. Wenn nicht gar ein Vielfachverdiener, denn er ist ja auch gelernter Schauspieler, Pantomime, Akrobat, Rapper und Zirkusclown und überdies mit Kleinkunstpreisen bestens ausgestattet.

Um den schnöden Broterwerb allein ging es dem schwäbischen Multitalent mit seinem Gastspiel „Das gönn ich euch!“ beim Arbeitskreis Kultursommer im Alten E-Werk Neckargemünd aber durchaus nicht: Der Hüne auf der Bühne (Nackenschmerzen in der ersten Reihe waren damit vorprogrammiert) hatte neben charmantem Blödsinn, hinreißenden Pantomine- und Slapstickeinlagen und bissigen (Polit-)Parodien auch einen Dichter wie Hölderlin im Sinn und nachdenkenswerte Botschaften im Gepäck.

Quietschgelbe Turnschuhe und eine Intellektuellenbrille: Schon optisch gesehen präsentierte sich Christoph Sieber mit Witz und Vision. Mit einem kabarettistischen Pointenfeuerwerk hielt er sein Publikum im proppevollen Alten E-Werk in Atem.

Lausbübisch schauspielernd, aber auch mit einer gehörigen Portion Zynismus und Wut im Bauch trug er vor, wie eine Gesellschaft „tickt“, die von Gier und Geiz, von einer gnadenlosen Schnäppchenkultur bis in die Werbeparolen geprägt ist. In der ein Baumarkt das letzte echte Abenteuer ist und flächendeckende Versicherungen vor sämtlichen Risiken schützen. In der auf Politbühnen und in Talkshows viel geredet, aber wenig gesagt wird und ein


Glücksgefühl erst dann aufkommt, wenn sich das Unglück anderer beobachten lässt.

Wäre da nicht der Glaube an Horoskope eine Lösung? Hatte doch der Kabarettist auf der Zugfahrt nach Neckargemünd noch in einem Zeitungshoroskop gelesen: „Seien Sie wachsam, es könnte sein, dass Sie in der Ausübung Ihres Berufs beobachtet werden.“ Volltreffer!

Doch Sieber setzt lieber auf Wut, Mut und Risiko: „Wir brauchen den Wut-Bürger!“ (anstelle des Cheese-Burgers). Und flugs wurde der Kabarettist zum „Empörungsdienstleister“, zum Wut-Sparringspartner für das Publikum, das ihm umgehend „Aufregerbegriffe“ zurief: „Steuern!“ „Benzin!“ „Bahn!“ „Schlaglöcher!“ Der professionelle Empörungsdienstleister steigerte sich dermaßen in Wut über die Unzulänglichkeiten auf Ämtern, Bahnhöfen, Straßen und Tankstellen, dass die deutsche Meckerkultur wie ein angestochener Luftballon in sich zusammensackte.

Aber auch erheblich stillere, nachdenklichere Töne schlug Christoph Sieber auf seiner Achterbahnfahrt durch das deutsche (Volks-)Empfinden an. Eine Nadel hätte man zu Boden fallen hören können, als er einen Auszug aus Hölderlins lyrischem Briefroman „Hyperion“ aus dem Jahre 1798 vorlas, gipfelnd in dem Satz: „Ich kann kein Volk mir vorstellen, das zerrissener wäre.“

Und was zerreißt uns heute? Diese Frage stand – unausgesprochen – im Raum. Laminat oder Parkett? Welche Visionen haben wir? Politisch, gesellschaftlich, privat? Da gibt es eine Menge Nachholbedarf, meint Sieber. Die schlimmste Vorstellung von allen aber wäre: „Stell dir vor, es geht – aber keiner kriegt’s hin!“