Ein sehr alter Text - sage und schreibe aus dem Jahr 1989. Aber es könnte so ähnlich wieder geschehen, auf der nächsten Buchmesse ...

Erschienen im Buchmarkt 10/1989


Es geschah am helllichten Tag in Halle 6, Gang F. Hätte mich doch jemand gewarnt vor dem folgenschweren Griff ins Regal! Welcher Teufel ritt mich, gerade dieses Buch aufzuschlagen?
Ich war schon seit Stunden unterwegs im Gedränge der Buchmesse, hatte viel geschaut und geblättert, hier und dort bei netten Verlagsleuten Unmengen von Kaffee getrunken und mich schließlich, wie in jedem Jahr, in zunehmender Teilnahmslosigkeit die endlose Phalanx von Büchern entlang treiben lassen.

Nun aber klappte ich dieses harmlos daliegende Büchlein auf – Perlen der Hoffnung hieß es – und las: Warte. Mancher Tag häutet sich noch vorm Abend und wendet sich dir zu. Die Worte schnellten mir entgegen wie ein Boxhandschuh. Mein Blick taumelte zum Foto auf der gegenüberliegenden Seite: düstere Berglandschaft; Sonne, dramatisch die Wolken durchbrechend.

Benommen und höchst beunruhigt stellte ich das Buch zurück zu den anderen: Perlen der Freude gab es da noch, und: Perlen der Freundschaft, Perlen der Geborgenheit, Perlen der Gemeinsamkeit, Perlen des Glücks, Perlen der Heiterkeit, Perlen der Kindheit, Perlen des Lächelns, Perlen der Lebenskunst, Perlen der Liebe, Perlen der Menschlichkeit, Perlen der Stille, Perlen des Trostes und Perlen der Zärtlichkeit. Diese Bücher öffnete ich jedoch vorsichtshalber nicht. Ungeachtet einer gewissen Irritation setzte ich meinen Rundgang fort.

Da! Wage zu träumen! murmelte es am übernächsten Stand von einem Buchdeckel mit tautropfender Glockenblume. Pflücke den Tag! Geh‘ deinen Weg! Ein Wunder fast, dass die sanften Töne im Messegewirr bis zu mir herüberdrangen. Bücher, die den Beschenkten freuen und den Schenkenden ehren, raunte der Werbetext.

Ich tat, als hätte ich nichts gehört, und dachte an einen Kaffee in Halle 5. Es war zu spät. Sage deinen Frieden weiter! maunzte es vom Stand schräg gegenüber. Vertrau‘ dem Augenblick! Höre das Flüstern der Welt! Schließ’ die Erde in dein Herz! Öffne das Fenster ins Weite! Gib dem Leben Farbe! Ich schaute mich unauffällig um: Nein, es war nicht die Heilsarmee (die ich vorhin noch in der zugigen Passage zwischen Halle 8 und Halle 5 hatte jubilieren hören), sondern eine Reihe eifrig meditierender LebensBilderBücher. Beglückende Symbiosen aus Wort und Bild, seufzte von irgendwoher die Werbung, … jeder Band 48 Seiten, 22 Fotos, DM 12,50!

Einen Augenblick lang erinnerte ich mich mit einem Anflug von Rührung an jene schlichten, hosentaschengroßen Bändchen mit besinnlichen Sprüchen zwischen zwei Pappdeckeln mit Spiralrücken, Quellen-Büchlein genannt, die vor Jahren den Bedarf an gedruckten Lebensweisheiten für Konfirmationen, Silberhochzeiten etc. ganz passabel abgedeckt hatten.

Dein Haus birgt ein Geheimnis! Lass‘ das Wunder geschehen! Die Stimmen wurden lauter, die Bücher größer und teurer. Mich fröstelte, und meine Sammelleidenschaft erwachte. Von nun an suchte ich. Und fand: Dir ist alle Liebe! Nur Tau … und dennoch! Sammle deine hellen Stunden ein! Schweißperlen tropften mir von der Stirn. Die Knie wurden seltsam weich, aber ich drängte von Stand zu Stand – und suchte.

Schaue das Schöne! Träume das Glück! Neben mir glitt, in stechendes Scheinwerferlicht gehüllt, ein Tross mit dem Bundespräsidenten vorbei. Ich starrte in die Regale. Da! Die Nacht ist wie ein stilles Meer! Erlebe täglich deinen Tag!

Es wurde die spannendste Messe meines Lebens. Flügelschlag der Säule, las ich. Wenn die Fleude Frügel hat. Ja, doch! Toga der Resen, Tüga des Glecks. Wage die Wege – nein, Wage die Wiege, vielleicht sogar: Wiege die Waage – ich weiß es nicht mehr so genau.

Es wurde Abend. Man reichte mir Mineralwasser. Zwei weißgekleidete Männer brachten mich nach Hause. Und da sitze ich nun mit meiner Sammelleidenschaft und der quälenden Ungewissheit: Ist mir im Trubel womöglich eine Kostbarkeit entgangen? Die Perle der Perlen? Und noch 364 Tage bis zur nächsten Messe …