Vom etwas anderen Familienurlaub
Erschienen in der Zeit, 15.8.1997

„Mama, da schwimmt ein Kondom.“ Nun ja, was sonst könnte im klaren Wasser unserer mediterranen Ferienbucht treiben. Quallen wie an der Nordsee jedenfalls nicht, das wissen wir aus Erfahrung: Wir sind schließlich zum sechsten Mal hier.

„Echt, schon wieder Costa Brava?“ Unseren frisch balinesisch eingebräunten Single-Freund Ewald hatte pures Entsetzen gepackt angesichts unserer fundamentalistischen Urlaubsgesinnung. Kollegin Renate, gerade dem Flieger aus Neuseeland entstiegen, hatte sich eher einfühlsam gezeigt: „Ätzt das nicht, immer am gleichen Ort?“

Darauf hätten wir durchaus mit den Urlaubsgewohnheiten namhafter Persönlichkeiten kontern können. Nicht, daß wir an dieser Stelle den Bundeskanzler am Wolfsgangsee bemühen wollten. Denken wir gut hundert Jahre zurück, an den Literaten Lewis Carroll, dessen skurrile Erzählungen neben Lese- und Schnorchelbrille vor mir auf dem Badetuch liegen: Wie oft verbrachte er seine Ferien - sittsam viktorianisch - am Stand von Eastbourne! Trotzdem schrieb er „Alice im Wunderland“. Oder gerade deshalb? Möglicherweise gab es dort Meerestiere, die ihn inspirierten (Kondome ja wohl noch nicht).

Wie auch immer - schon Carroll schätzte eine Form des Urlaubs, die den Jet-Hoppern des ausgehenden 20. Jahrhunderts auf immer verborgen bleiben wird: den etwas anderen Urlaub in der ganz präzisen Bedeutung der Worte. Abwechselung und Abenteuer, Fanale weltreisender Individualtouristen, bedeuten dem Gewohnheitsurlauber nichts im Vergleich mit dem verläßlichen Erlebnis des Immergleichen, vor allem aber: der genüßlichen Auskostung seiner sublimsten saisonalen Nuancen.

„Muschelmäßig voll die Fehlanzeige dieses Jahr“, mault die Tochter. Es ist schon Nachsaison, da muss man Abstriche machen hinsichtlich der Früchte des Meeres. Ab Mitte August bietet es sich an, ersatzweise Kronkorken, Aludosen-Verschlüsse, Zigarettenstummel und ähnliche Kleinfunde zur Dekoration der Sandburgen hinzuzuziehen. Glauben Sie jetzt nicht, wir führen in schöner Regelmäßigkeit an einen schmutzigen Strand. Die Region verleiht der Bucht jährlich das Prädikat „vorbildlich sauber“. Deshalb weckt uns ja auch frühmorgens von jeher das Getucker der Strandreinigungsraupe - im Geräuschverbund mit dem Quietschen der Bootswinde und dem Klirren der leeren Getränkekästen unten in der Bar. Und so muss, so soll das nach all den Jahren auch sein.

„Lasch des, Maggus!“ Schwäbelnde Intervention der Mama von Markus, der am Fuß der Treppe Löcher in den Sand buddelt. „Geh’ in de Sonn’!“ Markus trollt sich, und die Mama versinkt im Konsalik. Unsere Tochter übt derweil Fallschirmspringen vom Felsen. Ohne Fallschirm.

Daneben, ganz hinten am Strand im Schatten, sitzen wie in jedem Jahr die netten älteren Engländer und amüsieren sich königlich über das Treiben der Kleinen - „as long as they are not British“. „Take ya fuckin’ feet out o’ me castle!“ kreischt Jenny aus Liverpool und schubst ihren Bruder ins Wasser. Das zum Beispiel mögen die Engländer nicht. Während unsere Tochter zum zweiten Mal auf dem obersten Felsen die Arme zum Flug ausbreitet, zieht mein schnorchelnder Lebenspartner einen dieser zähen Pulpos aus dem Meer. Wir gehen also nicht essen heute Abend.

„Lasch des, Maggus!“ Markus spritzt mit Wasser. „Geh’ in de Schadde!“ Ich erinnere mich, daß Markus aus Backnang im letzten Jahr Kevin hieß und aus Wuppertal kam. Meine Gedanken schweifen über das Ruhrgebiet hinweg zu unserem Freund Freddy nach Indonesien. Der wird jetzt vermutlich - wie auf jeder Fernostreise - auf Reismatten liegend an einer Diarrhöe laborieren, während es uns hier bloß zum dritten Mal den Sonnenschirm wegbläst.

Drüben packt die schwäbische Mama eilig den Sohn und den Konsalik: Markus ist vom Felsen gerutscht und blutet aus mehreren Schürfwunden. Auch die Engländer brechen auf, wie immer um fünf. Einen Moment lang sehe ich sie zur Teegesellschaft des Hutmachers gehen. Dann versandet „Alice im Wunderland“ vor mir im Wind. Und ich fürchte, an diesem Strand findet er sich nicht, der Stoff für einen Roman unserer Tage. Eigentlich schade, denn mit Blick auf das, was da vorne im Wasser dümpelt, hätte ich schon den Titel: „Wie kommt das Kondom ins Meer“...