Ein deutsches (Sprach-)Phänomen
Erschienen in: medium, Zeitschrift für Hörfunk, Fernsehen, Film, Presse, 4/1993

Thomas Gottschalk braucht es, Max Schautzer, Rudi Carrell – Showmaster sind generell darauf angewiesen. Ohne es würden sie das Ganze vermutlich nicht durchstehen. Der Moderator einer besonders spaßigen Spielshow soll es – ein pingeliger Televisor hat mitgezählt – in einer Sendung ganze achtundzwanzig Mal benutzt haben.

Natürlich wird es auch außerhalb von TV-Studios verwendet: von Führungskräften zum Beispiel, Pädagogen, Eltern – von allen, die etwas moderieren müssen, sei es eine Konferenz, eine Mathestunde oder eine Erziehungsmaßnahme. Und während der täglichen Arbeitsroutine benutzt es eigentlich jeder mal so beiläufig.

Nachrichtensprecher hingegen brauchen es ebenso wenig wie Bundestagsredner und überhaupt alle, die vorformulierte Texte ablesen. Weder erscheint es auf dem Telepromter, noch steht’s im Manuskript – es sei denn, es würde gezielt in die Rede gestreut, um den Eindruck des freien Vortrags zu erwecken.

Showmaster nutzen es meist unbewusst, spontan und aus tiefstem Bedürfnis: Nehmen wir an, soeben hätten die Toten Hosen ihren Auftritt in „Wetten dass ...“ beendet. Durch den wabernden Trockeneisnebel tritt Tommy zum Kurzinterview auf die Bühne: „Was bedeutet Euch der Erfolg“, fragt er Campino, „Seid ihr stolz darauf oder nehmt ihr den einfach so hin?" Die Band juxt und feixt publikumswirksam. „Wann kommt die neue CD?" Aha, ist gerade erschienen. Die Tourneedaten werden genannt, und mit einem jovialen „Macht's gut, Jungs" ist das Interview auch schon wieder zu Ende.

Während nun Gottschalk die zwanzig Schritte zur Sitzgruppe zurücklegt, auf der schon der Literaturpapst der Nation wartet, geschieht es: Einatmend schwillt unter der Designerjoppe der Brustkasten, und mit der wieder ausströmenden Luft schnellt auch dieses kurze, befreiende Wort heraus: „So!"

Obwohl deutlich ausgesprochen, wird es im Saal und zu Hause kollektiv überhört – es ist nichts als ein kleiner Laut ohne Bedeutung in dem schwarzen Loch zwischen den Toten Hosen und Marcel Reich-Ranicki. Dem Moderator aber verschafft es die unverzichtbare Sekunde der Erleichterung und Entspannung, der blitzschnellen psychohygienischen Kurzbilanz: Was eben war, ist vorbei, erledigt, abgehakt, vergessen. (Im Gegensatz dazu pulsiert im Hirn eines Managers, Lehrers, Elternteils in vergleichbaren Sekundenbruchteilen: erledigt, abgehakt ... und hoffentlich zeigt es Wirkung!)

Dem aufmerksamen Zuhörer präsentiert sich das kathartische Zweibuchstabenwort in phonetischem Variantenreichtum: Der Anfangskonsonant ertönt mal stimmhaft, mal als Zischlaut, der Endvokal mal lang und rund, mal kurz und hart. Einem Entertainer, dem das Wort mit schlangenzüngigem Ssssss oder nasal-blasiert intoniertem Endvokal entweicht (oder gar beidem!), wird seine Show in unserem Fernsehhaushalt intuitiv weggezappt – einmal wieder wirkt durch die Fernbedienung die Macht des Unbewussten.

In diesem Text werden Sie das Wort so nicht finden. Die geschriebene oder gedruckte Sprache bedient sich eines anderen Mittels: Sie macht einen Absatz stattdessen. Wenn Sie aber demnächst die „Tagesthemen“ schauen, achten Sie doch mal auf den Scharadenteil (auch „Abspann“ genannt): wie da der Anchorman der ARD-Nachrichten, nach dem gelungenen finalen Humoranschlag zur Wetterkarte, die Manuskriptblätter staucht und den langen Rücken streckt, um dann in einem Akt offensichtlicher Erleichterung das kathartische Wörtchen zwischen den leicht gerundeten Lippen herauszulassen, während Schultern und Augenlider locker herabsinken …